Aktuelle Gen-Analysen stellen Verbindung zwischen dem 10.000 Jahre alten Paläoamerikaner "Luzio" und modernen amerikanischen Indigenen her
Bis in die 1980er-Jahre hielt man die Angehörigen der Clovis-Kultur für die Urahnen aller späteren indigenen Völker auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Die frühesten sicher datierbaren Überreste dieser Menschen, die sich anhand ihrer charakteristischen Pfeil- und Speerspitzen aus Feuerstein identifizieren lassen, sind etwa 11.000 Jahre alt. Daher nahm man an, dass die direkten Vorfahren der Clovis vor rund 13.000 Jahren von Sibirien her über die Landbrücke Beringia in das neue Land eingewandert waren. Seither kamen jedoch viele neue Funde ans Licht, die zeigen, dass die Besiedelungsgeschichte Amerikas doch deutlich komplizierter war.
Verschwundene Einwanderer Allein für Südamerika konnten Forschende mittlerweile drei Besiedlungswellen ausmachen , die den Kontinent im Abstand von jeweils mehreren Tausend Jahren erreicht hatten. Aus diesen drei anfänglichen Einwanderungswellen haben sich jedoch hauptsächlich die Nachfahren der mit 13.000 Jahren ältesten bekannten Population bis in die heutige Zeit herüberretten können – das ließen einige jüngere Arbeiten bereits erahnen und wurde anhand einer aktuellen umfangreichen Genstudie untermauert. Falls es eine noch frühere Population von Menschen in Südamerika gegeben haben sollte (wie zuletzt auch spektakuläre Schmuckfunde anzudeuten scheinen ), so hinterließ diese keine Spuren im indigenen amerikanischen Genomen.
Eine dreidimensionale Darstellung von Luzios Schädelüberresten.
Einer der Protagonisten der neuen Analyse war "Luzio", das älteste menschliche Skelett, das im brasilianischen Bundesstaat São Paulo gefunden wurde. Luzio lebte vor rund 10.000 Jahren, sein Fundort liegt im Flusstal der Ribeira de Iguape, etwa 60 Kilometer von der Atlantikküste entfernt, und zwar im sogenannten Sambaqui von Capelinha.
Riesige Muschelberge Mit Sambaqui bezeichnet die lokale Bevölkerung teilweise bis zu 30 Meter hohe Hügel , die großteils aus Muschelschalen, Fischgerippen und Tierknochen bestehen, in denen sich aber auch viele Steinwerkzeuge und eben auch menschliche Überreste finden lassen. Tausende dieser bis zu 10.000 Jahre alten Erhebungen existieren verstreut entlang der brasilianischen Küste, aber auch an Flüssen im Hinterland. Luzio war in einem dieser Fluss-Sambaqui beigesetzt worden.
"Nach den Andenzivilisationen besaßen die Sambaqui-Erbauer der Atlantikküste die höchste Bevölkerungsdichte im vorkolonialen Südamerika. Sie waren für Jahrtausende die 'Könige der Küste', doch vor etwa 2.000 Jahren verschwanden sie plötzlich", erklärte André Menezes Strauss, Archäologe am Museum für Archäologie und Ethnologie der Universität São Paulo und Hauptautor der nun im Fachjournal "Nature Ecology & Evolution" veröffentlichten Studie
An der Atlantikküste Brasiliens finden sich zahllose sogenannte Sambaquis. Die Hügel aus Muscheln, anderem kalkhaltigen Material, Knochen und Fischgerippen sind teilweise über 10.000 Jahre alt.
Ähnlichkeiten mit Luzia Auf der Grundlage der umfangreichsten archäologischen Genomdaten Brasiliens bietet die nun vorgestellte Studie auch eine mögliche Erklärung für das Verschwinden dieser Küstengemeinschaften. Das Team um Strauss analysierte dafür die DNA von 34 menschlichen Proben von acht Fundorten aus vier unterschiedlichen Gebieten an der brasilianischen Küste, darunter auch Erbgut von Luzio. Die Morphologie des Schädels dieses Paläoamerikaners gleicht der von Luzia , dem ältesten bisher in Südamerika gefundenen menschlichen Fossil aus der Zeit vor etwa 13.000 Jahren.
Nun bestätigte sich auch eine genetische Verwandtschaft. Dass Luzio und Luzia einer älteren Abstammungslinie angehören, so wie manche Fachleute bisher vermutet hatten, konnte mit der neuen Studie dagegen nicht festgestellt werden. "Die genetischen Analysen ergaben, dass Luzio zu jenen Indigenen zählte, denen auch die heutigen Tupi, Quechua oder Cherokee angehören", sagte Strauss. "Das heißt zwar nicht, dass diese indigenen Gruppen alle gleich sind, aber insgesamt stammen sie alle von einer einzigen Migrationswelle ab, die vor nicht mehr als 16.000 Jahren in Amerika ankam." Wenn es hier davor eine andere, viel ältere Population gegeben hat, dann hat sie keine feststellbaren Nachkommen unter den heute existierenden indigenen Gruppen hinterlassen, meinte der Wissenschafter.
Was wurde aus den Sambaqui-Erbauern? Bei den Untersuchungen von Luzios DNA stellten die Forschenden auch fest, dass die Erbauer der älteren Fluss-Sambaquis keine direkten Vorfahren der riesigen klassischen Küsten-Sambaquis waren, die später errichtet wurden. Dies deutet laut Strauss darauf hin, dass es zwei verschiedene Wanderbewegungen gegeben haben muss: eine ins Hinterland und eine weitere entlang der Küste. Überhaupt zeigte sich, dass die Sambaqui-Gruppen einander in kultureller Hinsicht ähnelten, genetisch und morphologisch jedoch erhebliche Unterschiede aufwiesen, insbesondere auch zwischen den einzelnen Küstengemeinschaften im Südosten und Süden.
"Studien, die schon in den 2000er-Jahren durchgeführt wurden, hatten bereits auf einen subtilen Unterschied zwischen diesen Küstengemeinschaften hingewiesen. Unsere genetischen Analysen bestätigen dies nun", sagte Strauss. Den Grund dafür fand das Team in der Tatsache, dass die einzelnen Küstenpopulationen nicht isoliert waren, sondern sich genetisch jeweils mit Gemeinschaften im Landesinneren 'ausgetauscht' haben. "Dieser Prozess muss über Jahrtausende hinweg zu den regionalen genetischen Unterschieden zwischen den verschiedenen Sambaquis-Erbauern beigetragen haben", so Strauss.
In manchen Sambaquis wurden auch Menschen bestattet. DNA-Proben von diesen Paläoamerikanern zeigten, dass die Sambaquis-Erbauer keine genetisch homogene Gruppe waren.
Kultureller Wandel Daraus lässt sich letztlich auch auf das mysteriöse Schicksal der Sambaquis-Kulturträger schließen: Die DNA-Daten verrieten den Forschenden, dass die einstigen Erbauer dieser merkwürdigen Hügel in Wahrheit nicht verschwanden, sondern vielmehr einen kulturellen Wandel durchlaufen haben müssen. Mit anderen Worten: Die Menschen, deren Vorfahren noch hohe Muschelhügel errichtet haben, sind einfach von dieser Praxis abgekommen.
So zeigte etwa das genetische Material, das man an der Fundstätte Galheta IV im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina geborgen hatte, große Ähnlichkeit mit DNA-Proben der klassischen Sambaquis-Erbauer hatten. Ihre archäologischen Hinterlassenschaften bestanden jedoch nicht aus Muschelhaufen, sondern aus Keramik-Überresten. "Diese Befunde stimmen mit einer Studie aus dem Jahr 2014 überein, bei der Keramikscherben von einem Sambaqui-Fundort analysiert wurden", sagte Strauss. "Wie sich herausstellte, hatten sich die Sambaqui-Menschen Technologien aus dem Hinterland angeeignet, um Lebensmittel zu verarbeiten, die dort bereits traditionell waren." (Thomas Bergmayr, 1.8.2023)
Studie
Nature Ecology & Evolution: "Genomic history of coastal societies from Eastern South America."
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