Der Atlantische Regenwald Brasiliens ist einer der artenreichsten weltweit. Doch zwei Drittel seiner Baumarten sind bedroht, zeigen aktuelle Zahlen – wesentlich stärker als in der Amazonasregion. Es gäbe jedoch eine simple Möglichkeit, um den Wald zu retten.
T ropenwälder sind besonders artenreich – und stehen zunehmend unter Druck. Eine Studie zum Atlantischen Regenwald zeigt, dass die Bedrohung der Baumarten stark unterschätzt wird. Lässt sich die Vielfalt noch bewahren?
Die gute Nachricht zuerst: Fünf Baumarten Südamerikas, die bislang als ausgestorben galten, gibt es einer Studie zufolge doch noch – wenn auch wohl nur in geringer Zahl. Nun das weniger gute Resultat: Generell sind die Bäume in tropischen Regenwäldern wesentlich stärker bedroht als bisher angenommen.
Beide Erkenntnisse stammen aus einer mit sehr hohem Aufwand betriebenen Bestandsaufnahme im Atlantischen Regenwald Südamerikas. Dieses riesige Ökosystem an der Ostküste des Kontinents – es umgibt dort etwa Ballungsräume wie São Paulo und Rio de Janeiro – ist ein einzigartiger Hotspot der Artenvielfalt. Allerdings ist inzwischen der größte Teil dieses Regenwalds gerodet. Und der Studie zufolge sind knapp zwei Drittel (65 Prozent) seiner fast 5000 Baumarten bedroht. Bei den endemischen – also nur hier vorkommenden - Spezies seien es sogar 82 Prozent, schreibt ein internationales Forschungsteam in der Fachzeitschrift „Science“.
Auch Bäume in anderen Tropenwäldern weltweit seien wesentlich stärker bedroht als bisher gedacht, folgert die Gruppe um Renato de Lima von der Universität São Paulo. Deutsche Fachleute loben die aufwendige Methodik und halten die Resultate für plausibel – zumindest was den Atlantischen Regenwald betrifft.
Diese Region, auch Mata Atlântica genannt, zieht sich entlang der brasilianischen Ostküste bis nach Argentinien und erstreckt sich auch ins Landesinnere des Kontinents, etwa nach Paraguay. Insgesamt wachsen hier mehr als 15.000 Pflanzenarten, die Hälfte davon ist endemisch. Doch die Vielfalt ist bedroht - und zwar noch wesentlich stärker als im nordwestlich gelegenen Amazonasbecken. Denn in der Region im Osten, in der mehr als ein Drittel aller Südamerikanerinnen und Südamerikaner leben, wurden etwa 80 Prozent der Vegetation zerstört, vor allem während der vergangenen 70 Jahre.
Unklar war, wie stark diese Dezimierung und auch weitere Einflüsse die Artenvielfalt in dem Ökosystem bedrohen. Bisher habe man dies nur auf Basis von 25 Prozent der Pflanzen abgeschätzt, bemängelt die Forschungsgruppe – und lediglich anhand weniger Kriterien der Weltnaturschutzunion (IUCN). Denn deren Rote Liste gefährdeter Arten ermittelt die Gefährdungskategorie einer Art eigentlich anhand mehrerer Kriterien: Dazu zählen vor allem die Entwicklung des Verbreitungsgebiets und die Entwicklung der Population, wobei Arten mit ohnehin nur geringen Beständen nach einem strengeren Maßstab kategorisiert werden.
Neun Prozent der Arten sind „vom Aussterben bedroht“
Die Forschungsgruppe teilte nun alle knapp 5000 Baumarten des Atlantischen Regenwalds in Gefährdungskategorien ein. Dafür nutzten sie Daten von Bestandsaufnahmen vor Ort sowie aus historischen Pflanzensammlungen. 1120 Spezies davon wurden erstmals eingestuft. Demnach sind knapp 65 Prozent der Baumarten bedroht – gut 9 Prozent sind „vom Aussterben bedroht“, 41 Prozent sind „stark gefährdet“ und die übrigen gut 14 Prozent „gefährdet“. Noch schlechter sieht es bei den endemischen Arten aus: Hier sind 82 Prozent bedroht - 11 Prozent „vom Aussterben bedroht“ und 53 Prozent „stark gefährdet“.
Als Beispiel nennt das Team etwa die ikonische Art Paubrasilia echinata, auch Brasil- oder Fernambukholz genannt, von der der Name Brasilien herrührt. Sie wird bei der IUCN als „stark gefährdet“ eingestuft, in der Studie wird sie hochgestuft als „vom Aussterben bedroht“ – auch weil die Population binnen einiger Jahrzehnte um 84 Prozent schwand. Die einst häufige Brasilianische Araukarie oder Brasilkiefer (Araucaria angustifolia) gilt demnach als „stark gefährdet“ - ebenso wie die Wildform des Mate-Strauchs (Ilex paraguariensis) und die Jussarapalme (Euterpe edulis).
Nur etwa jede sechste – 18 Prozent – der zuvor als „nicht gefährdet“ gelisteten endemischen Arten verbleibt demnach weiterhin in dieser Kategorie. Andererseits fand das Team in Pflanzensammlungen der letzten zwölf Jahre Belege für fünf Arten, die noch im Jahr 1998 als ausgestorben galten.
„Der Bewahrungsstatus der Baumflora des Atlantischen Regenwalds ist erschreckend, aber in Wirklichkeit wahrscheinlich noch schlechter“, schreibt die Gruppe um de Lima. Angesichts der vielen Datenlücken seien ihre Annahmen und Hochrechnungen vermutlich noch zu optimistisch.
„Hinter der Studie steckt ein massiver Aufwand“, sagt Almut Arneth vom Campus Alpin des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), die nicht an der Arbeit beteiligt war. „Es wurden verschiedenste Daten zur Taxonomie, Verbreitung und Ökologie der Baumarten des Atlantischen Regenwalds zusammengetragen.“ Dazu müsse man berücksichtigen: „Das ursprüngliche Ausdehnungsgebiet des Atlantischen Regenwaldes umfasste mehr als 1,2 Millionen Quadratkilometer und ist – wie in der Studie beschrieben – eine extrem artenreiche Region der Erde.“ Zwar sei das Datenmaterial teilweise recht dünn, aber insgesamt liefere die Studie ein vollständigeres Bild.
„Leider bestätigt diese Studie nicht nur die schlimmsten Befürchtungen, die Tropenökologen seit langem hegen, sondern macht plausibel, dass die Lage vor allem von Waldarten noch schlechter ist als angenommen“, meint Pierre Ibisch von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, der das Ökosystem aus eigener Erfahrung kennt. Der Atlantische Küstenregenwald in Brasilien gehöre zu den biologisch einzigartigen Regionen der Erde. „Die Ausbreitung von Städten, Viehfarmen, Landwirtschaft und Eukalyptus-Plantagen führt zum Untergang dieser großartigen Waldregion.“
„Andere Regenwaldgebiete längst auf dem gleichen Entwicklungspfad“
Aber die Studie beschränkt sich nicht auf Südamerika: In einem weiteren Schritt überträgt das Forschungsteam seine Erkenntnisse auf andere vergleichbare Regionen. Es schätzt, dass in allen Tropenwäldern weltweit zwischen 20.000 und 25.000 Baumarten allein durch den Schwund ihrer Lebensräume bedroht sind. „Das betrifft 35 bis 43 Prozent aller Baumarten weltweit und bestätigt, dass tropische Wälder die meisten global bedrohten Arten beherbergen“, heißt es. Das seien deutlich mehr als die bisher geschätzten 30 Prozent aller Baumarten.
Expertin Arneth teilt diese Interpretation nicht unbedingt: „Ich finde die Extrapolation zu anderen tropischen Waldregionen durchaus interessant, aber auch mutig.“ Der Eberswalder Forscher Ibisch meint dagegen: „Die Situation im Atlantischen Küstenregenwald ist schon seit Jahrzehnten sehr kritisch, aber viele andere Regenwaldgebiete sind längst auf dem gleichen Entwicklungspfad. Insofern halte ich auch die verallgemeinernden Schlussfolgerungen für die Tropen weltweit für stichhaltig.“
Von den Zahlen abgesehen: Generell zählten Bäume zu den am stärksten bedrohten Gruppen von Lebewesen auf dem Planeten, betont das Forschungsteam in „Science“. Angesichts des starken menschlichen Drucks auf Tropenwälder müsse man Rodungen bekämpfen und dem Erhalt von Bäumen Vorrang einräumen. Andernfalls drohten in den kommenden Jahrzehnten Tausende von Arten auszusterben.
Auch Ibisch mahnt zum Handeln: „Hier und dort ein paar weitere Schutzgebiete werden nicht ausreichen, diesen erdrutschartigen Verlust des Lebens und der funktionierenden Ökosysteme in dieser Region zu stoppen“, betont der Experte. „Dafür müsste dem Wald schlicht sehr viel Fläche zurückgegeben werden. Es braucht größere Gebiete, wo Wald Wald sein darf.“